Situationsbericht: Was alles gegen Trump spricht
Um es klar zu sagen: Es gibt eine Reihe von Faktoren, die gegen eine Wiederwahl Trumps sprechen. Ich denke nur, dass diese von der Öffentlichkeit und den Wettmärkten falsch eingeschätzt und übertrieben positiv für Biden gewertet werden. Hier die wesentlichen Punkte, auf die ich weiter unten im Detail eingehe:
- In den nationalen Umfragen liegt Biden deutlich vorne, teilweise im zweistelligen Bereich.
- Laut Wettquoten ist Biden seit den ersten Junitagen klarer Favorit auf den Wahlsieg
- Trumps Rally in Tulsa wurde nur von wenigen Leuten besucht, ist der Enthusiasmus seiner Wähler dahin?
- Spricht das politische Klima angesichts von COVID, der Rezession und der George Floyd/Black Lives Matter-Proteste nicht deutlich für Biden?
Wer die Wahl wirklich gewinnen wird, kann natürlich niemand mit Sicherheit sagen. Aber in meinen Augen stehen die Chancen auf Trumps Wiederwahl deutlich besser, als die Wettquoten derzeit aussagen. Darüber gesprochen habe ich im Übrigen auch im letzten onTaP-Podcast (auf Englisch):
Warum Bidens riesige Führung in den Umfragen weniger relevant ist, als viele denken
Dass Biden in dem Umfragen klar führt, ist mit Sicherheit kein Vorteil für Trump. Auf den ersten Blick ist das Bild katastrophal:
Allerdings gibt es ein paar Aspekte, die diese Umfragen für mich in einem anderen Licht erscheinen lassen.
1. Nationale Umfragen vs Swing States
Weil das Electoral College über die Wahl des Präsidenten entscheidet, sind landesweite Umfragen nur bedingt relevant. Regional kommt es zu erheblichen Abweichungen, weshalb ausschließlich von Bedeutung ist, wie die Umfragen in den umkämpften Swing States aussehen.
Dort fallen die Umfragen generell knapper aus, was so ähnlich auch bei der Wahl 2016 zu beoachten war: Trump verlor zwar in der bedeutungslosen Kategorie Popular Vote, gewann aber die Wahl. Das liegt im Wesentlichen am derzeit herrschenden Stadt-Land-Gegensatz, denn unbeliebt ist Trump hauptsächlich in den großen Metropolen, insbesondere an der West- und Ostküste. Diese aber sind im Electoral College relational eher unterrepräsentiert[1].
Um erneut gewählt zu werden, muss Trump also keineswegs einen zweistelligen Rückstand auf Biden aufholen. Es kann durchaus schon reichen, wenn er nur etwas aufschliesst. Letztlich entscheidend ist aber, wie es in den Staaten aussieht, in denen es knapp zugeht.
2. Wie zuverlässig sind die Umfragen? Der schüchterne Trump-Wähler
Aus meiner Sicht gibt es zwei wesentliche Probleme mit den Umfragen:
- Telefonumfragen befinden sich in einer historischen Krise
- Soziale Erwünschtheit: Der schüchterne Trump-Wähler
Die Krise der Telefonumfragen
Früher waren Telefonumfragen der Goldstandard der Meinungsforschung: Anhand eines Telefonbuchs war es relativ leicht, eine einigermaßen repräsentative Stichprobe aus der Gesamtbevölkerung zu ziehen[2]. Heutzutage aber besitzen viele Leute keinen Festnetzanschluss mehr, und ob Festnetz oder Mobiltelefon: Die meisten Menschen sind weniger willens als früher, Anrufe von Fremden entgegenzunehmen.
Wie dramatisch sich dieses Problem zugespitzt hat, zeigen diese Daten des Pew Research Centers:
Während sich also Ende der 1990er noch immerhin grob ein Drittel aller Amerikaner auf eine Meinungsumfrage am Telefon einließ, ist es derzeit nur noch etwa jeder Zwanzigste. Und ich vermute, dass diese Stichproben auch nicht mehr so repräsentativ wie früher ausfallen[3].
Alternativen zur Telefomumfrage existieren zwar und werden auch genutzt. Allerdings gibt es hier noch keine Allzweckwaffe, da insbesondere das Ziehen einer repräsentativen Stichprobe bisher noch nicht zuverlässig gelingt.
Das Problem der sozialen Erwünschtheit: der schüchterne Trump-Wähler
Ein klassisches Problem der Meinungsforschung ist die soziale Erwünschtheit, und bei Trump tauchte dieses Problem schon 2016 auf - interessanterweise insbesondere in den Staaten, in denen es knapp zuging:
Der Artikel von 538 erwähnt in diesem Zusammenhang auch noch einen weiteren wichtigen Aspekt: Umfragen unterschätzten Trump insbesondere in Staaten mit besonders vielen Weißen ohne College-Abschluss.
Für 2020 erwarte ich angesichts des gegenwärtigen politischen Klimas, dass es eher noch mehr schüchterne Trump-Wähler geben wird. Dabei gibt es eine wichtige kulturelle Komponente, auf die ich in ein paar Tagen auf meinem anderen Blog genauer eingehen werde. In jedem Fall gibt es auch diesmal bereits konkrete Hinweise darauf, dass soziale Erwünschtheit eine wichtige Rolle spielen könnte - und zwar pikanterweise genau in den wichtigen Swing States Wisconsin, Michigan und Florida.
Hat die Trafalgar Group die schüchternen Trump-Wähler bereits entdeckt?
2016 gab es mit der Trafalgar Group ein Meinungsforschungsinstitut, das in etlichen Swing States (u.a. Michigan, Florida und Pennsylvania) korrekt einen Sieg Trumps vorhersagte - anders als die Konkurrenz.
In den letzten Tagen kamen drei Umfragen der Trafalgar Group heraus, die ebenfalls ein anderes Bild zeichnen, als das die anderen Institute tun:
Interessant ist daran vor allem, wie Trafalgar fragt: Nämlich nicht allein danach, welchen Kandidaten der oder die Befragte bevorzugt. Die Trafalgar Group fragt jeden Umfrageteilnehmer auch danach, welchen Kandidaten wohl der Nachbar wählen werde.
Das ist ein cleverer Ansatz, um das Problem der sozialen Erwünschtheit zu umgehen. Tatsächlich weichen die Ergebnisse auch dieses Jahr wieder erheblich von sonstigen Umfragen ab. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Umfrageergebnisse der Trafalgar Group eine genauere Einschätzung der tatsächlichen Lage liefern.
Umfragen vier Monate vor dem Wahltermin sagen wenig aus
Unabhängig davon, welchen Umfragen du dein Vertrauen schenkst, bleibt ein wichtiges Problem: Vier Monate sind ein sehr lange Zeit, in der alles mögliche passieren kann und wird. So früh sagen Umfragen wenig über das spätere Wahlergebnis, weshalb man in einem Rennen mit zwei Kandidaten seine Schätzungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt eher in der Nähe von 50/50 ansiedeln sollte. (Weshalb ich auch die Ergebnisse der Trafalgar Group für nicht allzu exakt halte - wichtig ist im Moment vor allem die Differenz zu den anderen Umfragen, die den schüchternen Trump-Wähler illustriert.)
Das gilt insbesondere in einer Situation mit tiefen ideologischen Grabenkämpfen, weil jeder Kandidat auf einen harten Kern von um die 40% der Wähler kommt, die sich durch nahezu von nichts vom Gegenkandidaten überzeugen lassen werden. Das bedeutet in der Praxis, dass kein Kandidat je wirklich völlig abgeschlagen sein wird, selbst wenn es gerade nicht gut läuft.
Ein überraschendes Ereignis kann deshalb das Blatt für den hinten liegenden Kandidaten jederzeit wieder wenden. Während ich an diesem Artikel hier geschrieben habe, hat beispielsweise Kanye West verkündet, 2020 ebenfalls kandidieren zu wollen. Falls er es damit ernst meint, verändert das das Rennen - potentiell sogar sehr beträchtlich, da er Biden wertvolle schwarze Wählerstimmen kosten könnte.
Was sagen die Wettquoten, und wie aussagekräftig sind sie?
Die Wettquoten bei verschiedenen Buchmachern haben seit Anfang Juni einen Verlauf genommen, der klar für Biden als wahrscheinlichen Sieger der Wahl spricht.
Persönlich denke ich, dass die Wettöffentlichkeit die Lage ähnlich falsch deutet wie schon 2016. Damals hatte ich im Januar 2016 auf Trump als Wahlgewinner gewettet und wollte diese Wette hedgen, sobald er die republikanische Kandidatur gewinnt. Zu meiner Überraschung wurden seine Wettquoten dann aber nicht nennenswert besser. Weshalb ich die Wette letztlich einfach laufen ließ.
In der Vergangenheit war oft zu lesen, dass Wettmärkte zuverlässiger vorhersagen als Umfragen, weil sie vermeintlich alle Informationen bündeln. Doch ähnlich wie für alle Umfragegläubigen war auch für diese markteffiziente Sicht der Dinge das Brexit-Referendum und Trumps Wahl zum Präsidenten der USA ein klarer Rückschlag.
Unterm Strich zeichnen die Wettmärkte derzeit ein sehr ähnliches Bild wie die meisten Umfragen. Genau wie 2016 muss das nicht viel heißen.
Trumps Tulsa Rally: Fanal des Scheiterns?
Das Narrativ der meisten Mainstream-Medien bezüglich Trumps Tulsa-Rally fiel eindeutig aus: Sie war schwach besucht, ergo ist der berühmte Enthusiasmus seiner Wähler dahin - insbesondere, weil die Trump-Kampagne sich angesichts der Voranmeldezahlen große Hoffnungen auf ein riesiges Ereignis gemacht hatte (die wohl zu nicht kleinen Teilen durch nur vermeintliche Registrierungen zustande kamen).
In der Tat ist die relativ niedrige Teilnehmerzahl[4] für sich genommen ein Signal der Schwäche, allerdings sollte man sie auch in den nötigen Kontext rücken:
- Die Rally fand in der Mitte einer Pandemie statt, die insbesondere ältere Wähler davon abgehalten haben dürfte, zu erscheinen.
- Auch für Reisen eignet sich eine Pandemie nicht, und die meisten Teilnehmer kommen bei einer Trump-Rally typischerweise von außerhalb.
- Eine Voranmeldung ist zum einen kostenlos, und garantiert darüber hinaus keine Teilnahme - vielmehr dient sie der Trump-Kampagne zum Sammeln von Informationen. Es war also sehr leicht möglich, falsche Registrierungen vorzutäuschen.
- Die ursprünglich friedlichen Proteste in der Folge des Mordes an George Floyd eskalierten landesweit; die aufgeheizte Atmosphäre hat mit Sicherheit ihren Teil dazu beigetragen, insbesondere Familien vom Besuch abzuhalten (die typischerweise bei Trump-Rallys zahlreich erscheinen, in Tulsa aber kaum zugegen waren).
Das Gegensignal: Online schauten 13 Millionen zu
Was bei aller Diskussion über die schwachen Zuschauerzahlen in vielen Medien außen vor gelassen wurde, weil es nicht ins Narrativ passt: Online hat sich eine Rekordanzahl von Menschen die Rally angeschaut, insgesamt waren es übers Fernsehen und verschiedene Streamingplattformen hinweg 13 Millionen Menschen, was historisch ohne Beispiel ist.
Mein Tulsa-Fazit
Ich denke, dass man weder das eine noch das andere überinterpretieren sollte. Sowohl die niedrige Teilnehmerzahl als auch die hohen Zuschauerzahlen im Fernsehen und online sind für mich in erster Linie ein Zeichen abnormaler Zeiten: Pandemiebedingt hatte es ungewöhnlich lange keine Trump-Rally gegeben, und sie fand im Ausnahmezustand statt. Aufgrund dieser Zahlen ist alles denkbar: Dass er kaum noch Unterstützung hat, oder dass diese Unterstützung so groß ist wie noch nie.
Logischerweise waren alle (auch die Gegner) neugierig, wie diese Rally wohl aussehen würde. Und logischerweise war es nicht ganz so einfach, vor Ort sein zu können. Was die Zahlen wirklich aussagen, wird man erst sagen können, wenn die nächsten paar Trump-Rallys stattgefunden haben. Zumindest aber zeigen die Zahlen, dass der schüchterne Trump-Wähler ein plausibles Gedankenmodell ist, was eine Wette zu hohen Quoten für mich bereits rechtfertigt.
COVID, Rezession, Black Lives Matter: Ist Trump deswegen chancenlos?
Es stimmt schon: 2020 hat sich für Trump sicher nicht ideal entwickelt. Während viele deshalb sein Schicksal als besiegelt sehen, ist mein Eindruck aber eher, dass sich das Blatt gerade wieder wendet.
COVID
Zwar hat Trump COVID schlecht gehandhabt, allerdings scheinen sich die Konsequenzen daraus in Grenzen zu halten. Das gilt zum einen gesundheitlich: Während die Fallzahlen in den USA weiter explodieren, sinken zeitgleich die Todeszahlen kontinuierlich. Die Sache läuft also glimpflicher ab, als man zwischendurch befürchten musste (was man auch gut an Schweden erkennen kann). Dazu kommt zum anderen, dass kaum ein Land bei der Bekämpfung dieser Pandemie wirklich geglänzt hat.
All das legt für mich den Verdacht nahe, dass COVID für die heiße Phase des Wahlkampfs im Oktober/November nur eine untergeordnete Rolle spielen wird.
Die COVID-bedingte Rezession
Unter normalen Umständen hätte ich eine Rezession als tödlich für Trump gehalten, weil er seinen Erfolg selber von Beginn an sehr stark an der Wirtschaft gemessen hat. Und die brummte entgegen der düsteren Vorhersagen seiner Kritiker von 2016 in der Tat - bis die Pandemie kam und für Rekordarbeitslosenzahlen sorgte.
Allerdings ist offensichtlich, dass man das Trump nicht anlasten kann. Sollte die Wirtschaft klare Zeichen der Erholung zeigen, dürfte das Thema insgesamt weiter ein Plus für seine Kampagne bleiben. Und tatsächlich war die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen sowohl im Mai, als auch im Juni besser als prophezeit, was seine Kampagne natürlich sofort zum Thema machte:
— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) July 2, 2020
George Floyd, Black Lives Matter, die Proteste und Antifa
George Floyds Tod hat für eine explosive und komplizierte Gemengelage gesorgt, die die meisten als schlecht für Trumps Wiederwahl werten - jedenfalls legen das die meisten Meinungsumfragen und die Wettmärkte nahe. Ich denke, dass das nicht selbstevident ist, sondern dass wir es hier mit den neuesten Entwicklungen eines sehr komplexen Kulturkriegs mit einer ganzen Reihe von Akteuren zu tun haben (von denen Antifa ein wichtiger ist), und auch eine Art politischen Bürgerkrieg der Linken beinhaltet, der gerne vergessen wird.
Das alles hier abzuhandeln würde wohl den Rahmen sprengen, weshalb ich im Lauf der Woche dazu einen Hintergrundartikel auf meinem anderem Blog veröffentlichen werde, in dem ich meine Sicht der Lage erläutere. Meinen Schluss daraus kann ich hier aber vorwegnehmen: Ich glaube, dass die Ereignisse der letzten Wochen dafür gesorgt haben, dass es mehr schüchterne Trumpwähler denn je gibt, und seine Chancen deshalb in der Summe gestiegen sind - auch wenn das nicht unmittelbar offensichtlich ist.
Aus meiner Sicht ist das der entscheidende Faktor dafür, dass Trumps Wettquoten deutlich höher ausfallen, als sie sollten.
Fazit: Zu welcher Wettquote ich auf Trump wette
Wie hoch ist nun aber zu hoch für Trumps Wettquoten? Wie weiter oben erwähnt halte ich eine 50/50-Schätzung zum gegenwärtigen Zeitpunkt für deutlich plausibler als die starken Abweichungen davon, die im Moment bei verschiedenen Wettanbietern zu haben sind. Jede Wettquote von 2.50 oder darüber halte ich für eine sehr starke Wette auf Trump.
Fußnoten:
[1] Während die Verteilung im Electoral College für Trump 2016 von Vorteil war und es auch 2020 danach aussieht, war das zum Beispiel 2012 noch anders: Damals waren Obama und Romney wenige Wochen vor der Wahl in den nationalen Umfragen fast gleichauf, doch Obama hatte in den Swing States klare Vorteile - weshalb seine Wiederwahl damals auch nicht in Gefahr war, was die Medien indessen gänzlich anders darstellten.
[2] Auch damals war das noch keine zu 100% repräsentative Umfrage, weil es dennoch einen gewissen Prozentsatz der Bevölkerung gab, der über kein Telefon verfügte. Aber das Problem war klein genug, um vernachlässigbar zu sein.
[3] Der Rückgang auf eine Antwortrate von 6% zeigt, dass sich der Durchschnittsmensch von Umfragen nicht mehr belästigen lässt. Das legt für mich den Verdacht nahe, dass sich die verbleibenden 6% vom Rest der Bevölkerung charakterlich unterscheiden könnten, was möglicherweise Auswirkungen auf das Wahlverhalten hat.
[4] Selbst die relativ niedrige Teilnehmerzahl dieser Trump-Rally ist immer noch deutlich höher als nahezu alles, was die meisten anderen Politiker in normalen Zeiten zustande bekommen.